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Was sind die Veden?
von Sacimata

Wir beginnen in diesem Teil mit den Nachforschungen über die Quelle des Wissens, an die sich bereits die alten Weisen gewendet haben. Was sind die Veden? Woher kommen sie, was sagen sie, wer schrieb oder verfasste sie?

Eines sei vorweggenommen: Es sind vor allem die westlichen Gelehrten und Suchenden, die von einem "vedischen Schrifttum" sprechen und damit den Veda - die Veden - meinen. Doch dies ist irreführend, denn Veda bedeutet: heiliges Wissen, das nicht-menschlichen (a-paurusheya) Ursprungs ist. Das Offenbarungswissen des Veda geht den Pfad des Hörens - nicht nur in früheren Zeiten, sondern auch heute wie wir später noch aufzeigen werden. Dieses Hören geht über das hinaus, was mit dem menschlichen Ohr gehört wird, sondern weist auf ein Hören im Innern hin. Das Wort - die heilige Wortoffenbarung - ist ewig und hat keinen zeitlichen Anfang. Es entfaltet seinen wahren Sinn dann, wenn es von jemandem gesprochen oder gehört wird, der entsprechend verwirklicht ist. Entsprechend der Brhad-aranyaka Upanisad (2.4.10) entströmt dieses Wissen dem Atem des Purushas (Gottes). Es wird gesagt: "So wie unser Atem leicht fliesst, entstehen diese Schriften aus dem Höchsten Brahman, ohne dass dieses Sich darum bemühen müsste."

Mit dem geistigen Hintergrund des westlichen Verständnisses von Evolution haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten viele Indologen und Religionswissenschaftler bemüht, das indische Schrifttum im Sinne einer stetigen Höherentwicklung einzuordnen. Doch sie mussten kapitulieren, denn zu umfangreich ist die Literatur, zu vielschichtig die Sanskritsprache, zu kryptisch die Texte, die einander in zahllosen Widersprüchen aufzuheben scheinen. Dabei erklären die Schriften sich - den Veda - letztlich als EINE Einheit.

Die vedische Literatur wird unter dem Oberbegriff shastra (Bedeutung: das was regelt, zurechtweist, auf dem rechten Weg hält) zusammengefasst. Dem spirituell Strebenden wird empfohlen, seine persönlichen Erfahrungen und Schlussfolgerungen immer auch anhand der shastra zu prüfen. In der Chandogya Upanishad (VII,1,2) - nach moderner Auffassung einer der ältesten Upanishaden - zählt der Weise Narada folgende Texte zur shastra: "Ich kenne Rig-, Yajur-, Sama- und Atharvaveda (die vier Veden), sowie die Itihasas (Chroniken wie das Mahabharat, das die Bhagavad-Gita enthält, und das Ramayana) und Puranas als fünften Veda. Ich bin vertraut mit den Pancaratras (Ekayanam) und den Sutras (Lehrschriften zu bestimmten Wissensgebieten)." Das Shrimad-Bhagavatam (1.4.20), auch Bhavagat-Purana genannt, das nach moderner Auffassung eines der jüngeren Puranas ist, bestätigt diese Aufzählung.

Jeder der vier Veden besteht aus Samhita (Sammlung von Hymnengruppen, Mantras), Brahmanas (umfangreiche theologische Abhandlungen über die richtige Verwendung und Bedeutung der in den samhitas enthaltenen Hymnen und Mantren für Opferhandlungen) Aranyakas (die Waldbücher) und den zum Teil in ihnen eingebetteten Upanishaden (Vedanta). Allein diese kurzen Beschreibungen vermitteln uns einen ersten Eindruck davon, wie breit die vedischen Schriften gefächert sind. Der Rg Veda allein enthält über 1˙000 Hymnen mit mehr als 10˙000 Versen, der Atharvaveda über 730 Hymnen mit mehr als 6˙000 Versen, das Mahabharata besteht aus 110˙000 Verspaaren, und die achtzehn Haupt-Puranas enthalten Hunderttausende von Versen. Zu diesen vedischen Schriften im engeren Sinne hinzugezählt, werden zuweilen auch die Kommentare späterer Meister und Lehrer, die den Lauf der vedischen Denkweise Jahrhunderte lang mitbestimmt haben.

Die vedischen Schriften werden in shruti und smriti unterteilt. Zu den shruti gehören die vier Veden inklusive der Upanishaden. Dieser Begriff wird aus der Sanskritwurzel "sru" (hören) abgeleitet und bedeutet soviel wie, das Gehörte. Sie wurden von den rishis (Seher, Heilige) gehört und weitergegeben, doch ihr Ursprung ist nicht von dieser Welt.

Zu den smriti zählen Offenbarungen, deren erster sprachlicher Formgeber bekannt ist (Vyasa, Narada usw.), die Puranas, die Itihasas (wie das Mahabharata, in dem die Bhagavad-Gita enthalten ist), die Manusmriti und andere Gesetzbücher, die Nitishastras (Lehrbücher über das richtige Verhalten) sowie die Werke (darshana) der Begründer der sechs klassischen indischen Philosophiesysteme wie Jaimini, Kapila, Patanjali, Kanada. Smriti bedeutet "das, was erinnert wurde". In einem Sinnbild wird die sruti mit der Mutter und die smriti mit der Schwester verglichen. Ein Kind hört zuerst von seiner Mutter und kann dann aus den Beschreibungen seiner Schwester weiterlernen.

Je nach eigenem Empfinden und Verständnis heben verschiedene Philosophen bestimmte Texte der vedischen Offenbarung hervor, während sie andere weitgehend unbeachtet lassen. So gibt es Gelehrte, - oft sind sie in den Reihen der westlichen Indologen zu finden -, die von einem chronologischen Standpunkt her argumentieren, und nur die shruti als Veda gelten lassen, weil in ihnen die ursprüngliche Offenbarung enthalten sei. Damit wird selbst die Zugehörigkeit der Bhagavad-Gita zum Veda in Frage gestellt. Doch die bekannten Lehrer der verschiedenen Vedantaschulen, von Shankaracharya über Ramanuja bis hin zu Chaitanya Mahaprabhu anerkennen die smritis als Teil der vedischen shastra. Rupa Gosvami, ein vedischer Philosoph aus dem 16. Jahrhundert erklärt dazu, jemand, der sich nur an die shrutis halte, tue nichts weiter, als die Wörter der Schriften in den Mund zu nehmen, ohne sie zu verstehen oder zu leben.

Eine Aussage oder eine Schrift, die sich an den ursprünglichen vedischen Texten orientiert und darauf abzielt, deren Sinn und Zweck weiterzuführen, kann auch zu den Vedas gezählt werden. Dementsprechend kann jedes Werk als echte vedische Schrift anerkannt werden, selbst wenn es nicht zu den ursprünglichen Schriften gehört, sofern es beiträgt, die vedische siddhanta (Schlussfolgerung) weiter auszuführen, ohne ihre Bedeutung zu verändern. Vielmehr noch macht die vedische Tradition sogar weitere Werke erforderlich, welche den Sinn der vedischen Botschaft entsprechend Zeit, Ort und Umstände weiter tragen.

In diesem Sinne gehört die Gesamtheit der schriftlich niedergelegten Erkenntnisse aus der alten indischen Hochkultur bis hin in unsere Zeit zur vedischen Literatur. Wie eingangs erwähnt, sind die Veden der vedischen Tradition zufolge einerseits a-paurusheya, das heisst, nicht auf menschliche Tätigkeit oder Fähigkeit zurückführbar. Sie gelten als absolut und selbst-autoritativ, sie sind mit anderen Worten für eine Erklärung von nichts anderem abhängig als von sich selbst. Andererseits bedeutet das jedoch nicht, dass das, was als Schrift gelesen oder als Wort gehört wird, bereits absolut ist. Vielmehr wird betont, dass die innere Verwirklichung unerlässlich ist, um die äussere Schattenhülle des Wortes durchstossen zu können, und den Sinn - den Gehalt - im eigenen Atman zu erkennen und unmittelbar zu erfahren.

Als grundlegend und geradezu wegweisend für dieses Verständnis darf folgender Text des bedeutenden Bhaki-Gelehrten Bhaktivinoda Thakur (1838 - 1914) aus seinem Bhagavata (1869) erachtet werden:

"Zwei weitere Grundsätze kennzeichnen das Bhagavatam, nämlich Freiheit und Fortschritt der Seele in Ewigkeit. Das Bhagavatam lehrt uns, dass Gott uns die Wahrheit in der gleichen Weise schenkt, wie Er sie Vyasa gegeben hatte: Wenn wir ernsthaft danach suchen.

Die Wahrheit ist ewig und unerschöpflich. Die Seele empfängt eine Offenbarung, wenn es sie danach verlangt. Die Seelen grosser Denker aus vergangenen Zeiten, die jetzt auf spiri-tuelle Weise fortleben, nähern sich oft unserem fragenden Geist und stehen ihm in seiner Entwicklung bei. Auf diese Weise erhielt Vyasa von Narada und Brahma Beistand.

Unsere Shastras (heiligen Bücher) enthalten längst nicht alles, was wir von unserem unendlichen Vater erhalten könnten. Es gibt kein Buch ohne Fehler. Gottes Offenbarung ist die absolute Wahrheit, aber sie wird selten in ihrer natürlichen Reinheit empfangen und bewahrt. Im 14. Kapitel des 11. Buches des Bhagavatam werden wir an-gewiesen zu glauben, die offenbarte Wahrheit sei absolut. Jedoch im Lauf der Zeit nimmt sie die Färbung desjenigen an, der sie empfangen hat, und wird dadurch, daß sie über viele Zeitalter hinweg ständig von einem zum andern weiterge-reicht wird, in etwas Falsches verwandelt.

Aus diesem Grunde sind ständig neue Offenba-rungen notwendig, um die Wahrheit in ihrer ursprünglichen Reinheit zu bewahren. Daher werden wir ermahnt, bei unseren Studien der alten Autoren sehr sorgfältig zu verfahren, für wie weise sie auch immer gehalten werden.

Hier haben wir die volle Freiheit, die falsche Vorstellung zurückzuweisen, die für unseren Seelenfrieden unannehmbar ist. Vyasa war nicht mit dem zufrieden, was er in den Veden zusam-mengetragen, in den Puranas bearbeitet, im Vedanta und im Mahabharata verfasst hatte. Sein Gewissen billigte seine Mühen nicht. Von innen her sprach es: "Nein Vyasa! Du kannst dich nicht mit dem unvollständigen Bild der Wahrheit zufriedengeben, das dir unvermeidlich von den Weisen längst vergangener Zeitalter übermittelt worden ist. Du musst selbst an die Tür dieser unerschöpf-lichen Schatzkammer der Wahrheit klopfen, aus der die alten Weisen ihren Reichtum schöpften. Geh, geh bis hin zur Quelle der Wahrheit, dorthin, wo kein Pilger auch nur die geringste Enttäuschung erlebt."

Vyasa tat es, und er empfing, was er sich wünschte. Wir alle sind angehalten, es ihm gleich zu tun. Denn es ist die Freiheit, die wir als das wertvollste Geschenk Gottes ansehen müssen. Wir dürfen uns nicht einfach nur von denen führen lassen, die vor unserer Zeit gelebt und gedacht haben. Wir müssen selbständig denken und versuchen, andere Wahrheiten zu entdecken, die immer noch verborgen sind. Im Bhagavatam wird uns empfohlen, uns an den Geist der Shastras zu halten und nicht allein an die blossen Worte. Das Bhagavatam ist deshalb eine Religion der Freiheit, der ungetrübten Wahrheit und der absoluten Liebe."

 

Das vedische Wissen gilt als ewig, und da der materielle Kosmos sich in einem ständigen Wandel befindet, wird auch der Veda immer wieder neu verkündet. Es ist die ewige Wiederkehr des Gleichen in zahlreicher Abwandlung, entsprechend Zeit, Ort und Umständen. Es ist nur natürlich, dass sich die menschliche Individualität und Eigenheit in unterschiedlichen philosophischen Ansichten ausdrückt. Die verschiedenen Heilswege und Yogapfade, die in den vedischen Schriften enthalten sind, ist die wirklichkeitsnahe und darum zeitlose Antwort eines grossen Erziehungsplans, der um diese Individualität weiss.

Der Veda geht nicht in der Art eines geschickten Kartentrickspielers vor, indem er einen vorgefertigten Weg, der für jeden Menschen passt, aus der Tasche zaubert. Vielmehr fächert er ein unbegrenztes Spektrum an verschiedenen Wegen und philosophischen Betrachtungsweisen auf, um den Mensch auf der ihm eigenen Ebene der Bewusstseinsentfaltung und Neigung anzusprechen und ihn zu ermutigen, sich weiter zu entwickeln, - sowohl im Hinblick auf die materielle als auch spirituelle Wirklichkeit der Existenz. Zwar scheinen sich durch diese Vielfalt Widersprüche im "heiligen Wissen" des Veda aufzutun. Doch diesem weiten Spektrum liegt dieselbe Ursache zu Grunde und so führen die vedischen Schriften (shastras) letztendlich zu EINEM harmonischen Ganzen mit einer harmonischen Schlussfolgerung (siddhanta).

Wir beenden unsere Betrachtungen über die Veden mit einer Aussage des deutschen Indologen Helmuth von Glasenapp (1891 - 1963), in dessen Worten sich das Wesen des vedischen Erziehungsplan widerspiegelt: 

"Das Nebeneinanderstehen von so grundsätzlich verschiedenen Anschauungen wie auch die Tatsache, dass die Vertreter derselben ihre Gegensätze nie zum Anlass von bedeutenden Religionskriegen oder Ketzerverfolgungen genommen haben, hat seine Ursache darin, dass die meisten Inder, wie Graf Hermann Keyserling dargetan hat, nicht glauben, dass ˙metaphysische Wahrheiten in irgendeinem logischen System einer erschöpfenden Verkörperung fähig wären˙, vielmehr ˙das Eigentliche nur in mehr oder weniger deutlicher und überzeugender Symbolik zum Ausdruck bringen˙.

Gemeinsam ist den unendlich vielen Gestaltungen der überirdischen Wirklichkeit nur, dass sie eine den besonderen Bedürfnissen und der Entwicklung des Einzelnen angepasste Möglichkeit der Erhebung über das Vergängliche bieten und dass sie in den letzten ethischen Konsequenzen konform gehen.

Ein Sanskritspruch sagt: ˙Über heilige Stätten, über Gott und über die religiösen Pflichten herrscht unter den Gelehrten viel Streit, dass aber die Mutter etwas Heiliges ist und dass das Mitleid eine Tugend ist, darin stimmen alle Systeme überein.˙" (Die fünf Weltreligionen, 1963, S.64/65)

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