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Der vedische Hinduismus
von Sacimata

Es ist kein leichtes Unterfangen, den Hinduismus zu erklären, da es DEN Hinduismus bei näherer Betrachtung gar nicht gibt. Historisch geht der Begriff Hinduismus auf die Zeit der Mogul-Einfälle (7. Jahrhundert) in Indien zurück. Der erste Eroberungszug führte die islamischen Moguls nur bis zum Fluss Sindu (oder Indus, wie er heute genannt wird), was dazu führte, dass alle Bewohner jenseits dieses Flusses als Sindus (oder Hindus) bezeichnet wurden. So umfasst der Begriff Hindu in seinem Ursprung sämtliche Formen der Kultur, der Religion und der Philosophie, die sich aus der Sicht der islamischen Moguls jenseits des Indus befunden haben, und sich mehr oder weniger verwandt sind.

Zum vedischen Hinduismus können all jene Strömungen gezählt werden, die sich aus der vorbuddhistischen Religion entwickelt haben und philosophisch auf den Veda ausgerichtet sind. Obwohl heute von den Veden gesprochen und darunter das religiös-philosophische Schrifttum gemeint ist, gilt der Veda ursprünglich als Lautoffenbarung Gottes, die in mündlicher Form in langen Lehrer-Schüler-Nachfolgen von einer Generation zur nächsten weitergereicht wurde. Diese Sampradayas (sam - gleich bleibend, unverfälscht, treu; pra - weiter; daya - geben) unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, da sie sich zwar alle auf eine Ursache (die Göttlichkeit) berufen, jedoch die unveränderliche innere Botschaft in der äusseren Welt sehr unterschiedliche Formen angenommen hat. Das indische Denken spiegelt den Glauben, dass es nicht nur eine Religion geben kann, sondern viele Religionen, viele unterschiedliche Wege geben muss, die den unterschiedlichen Lebewesen je nach Ort, Zeit und Umständen dabei helfen, ihren individuellen Weg zum Göttlichen zu finden. Daraus ist auch zu erklären, weshalb lange Zeit nur sehr spärlich Schriften der alten Veda-Offenbarungen existierten. Erst die englische Besatzungsmacht bestand darauf, diese Weisheit in Wort und Schrift zu fixieren, so wie sie es ja von ihrer eigenen Religion und Kultur her gewohnt war. Die geistigen Schülernachfolgen des alten Indien jedoch, sahen in der schriftlichen Fixierung eher die Gefahr einer damit verbundenen Erstarrung und Minderung des Heiligen.

So wie es nicht nur eine Religion für alle Menschen gibt, gibt es auch nicht nur ein Dharma (religiöse Pflicht) für alle Menschen. Dharma ist ein vielschichtiger Begriff, der sich aus der Sanskritwurzel dhri ableitet: das, was trägt - das, was das Weltall trägt.
Die Vielfältigkeit des Dharma findet ihre Anwendung in der vedischen Gesellschaftsordnung, dem Varnaashram-Dharma (Varna: Stand, Klasse, Kaste; Ashram: hier auf die Lebensstadien bezogen; Dharma: die entsprechenden religiös/sozialen Pflichten). Als Varna werden traditionell vier Stände unterschieden:
  • Die Brahmanen: Priester, Philosophen, Gelehrte, religiöse Führer
  • Die Kshatriyas: Politiker, Soldaten, Polizisten, Regierende
  • Die Vaishyas: Händler, Bauern, Geschäftsleute
  • Die Shudras: Arbeiter, in Dienstleitungsbetrieben Beschäftigte
Traditionell wird der Einzelne nach seiner individuellen Wesensart (Neigungen, Eigenschaften usw.) einer dieser Kasten zugeordnet. Im Verständnis eines einheitlichen Körpers, für dessen reibungslose Funktion die Pflege der einzelnen Körperteile unabdingbar ist, werden die Kasten zwar differenziert, aber nicht diskriminiert. Kopf (Brahmanen), Arme (Kshatriyas), Rumpf (Vaishyas) und Beine (Shudras) bilden eine Einheit, die sofort empfindlich gestört wird, wenn einer dieser Teile verletzt wird. In der Realität des heutigen Indiens ist dieses traditionelle Varna-System jedoch schon längst von einem Geburtssystem verdrängt worden, das die Menschen entsprechend der Familie in der sie geboren werden, einer bestimmten Kaste zuteilt. Auf diese Weise wurde das ursprünglich System zur Schaffung eines Klassensystems instrumentalisiert, das einzig und allein der Ausbeutung künstlich geschaffener niedrigerer Gesellschaftsklassen dient, von denen es in neuerer Zeit unzählige gibt.
Zum zweiten Bereich des Varnaashram-Dharma gehören die Ashramas oder Lebensstadien. Hier werden vier Stufen unterschieden:
  • Brahmacarya: die Zeit des Lernens (Schüler)
  • Grihastha: die Zeit, in welcher der Mensch einen Haushalt gründet und in der Gesellschaft viele Pflichten übernimmt
  • Vanaprastha: die Zeit, da der Mensch seine Verpflichtungen übergibt, um sich vermehrt spirituellem Streben zu widmen
  • Sannyasa: der Mönchsstand, da sich der Mensch einzig der Selbsterkenntnis widmet.
Die letzten beiden Lebensabschnitte werden nur von den Menschen beschritten, welche eine natürliche Neigung zu spirituellen Themen oder Yogapraktiken verspüren.
Als Grundgedanke des Dharma gilt das Verständnis, dass jeder Mensch individuell und mit Hilfe der Lehrer (gurus), Heiligen (sadhus) und der göttlichen Offenbarung (shastra) versteht, welche Aufgaben ihm in diesem Leben zufallen. So wird das Dharma zur Brücke, die ihn über den Abgrund des Endlichen seiner jetzigen Verkörperung zum Unendlichen seiner ewigen inneren Existenz führt. Dieser Gedanke erinnert an ein persisches Weisheitswort, das Jesus zugeschrieben wird: "Die Welt ist wie eine Brücke. Überquere sie, aber baue nicht auf sie."

Ein weiteres verbindendes Element aller Strömungen, ist der Glaube an die Reinkarnation und das Gesetz des Karma. Der Tod gilt als Übergang zwischen den einzelnen Verkörperungen im Rad des Samsara (Rad der Geburten und Tode). Das ständige Wiederkommen der Seelen wird grundsätzlich als eine Art Schule des Lebens verstanden, in der sie entsprechend den verschiedenen Yogawegen lernen können, motivlos zu lieben (bhakti-yoga), aus Wissen Weisheit entstehen zu lassen (jnana-yoga) und ihr Denken und Tun völlig zu läutern (karma-yoga). Dabei soll die vedische Tugendlehre dem Lebewesen Stütze bieten, sein Wesen (sein Bewusstsein) zu läutern und im Zustand des vollkommen reinen Bewusstseins Befreiung (mukti) vom Rad der Wiedergeburt zu erlangen, um sich entweder passiv mit dem Unendlichen zu vereinen oder sich aktiv als spirituell-individuelles Wesen jenseits der Fesseln von Raum und Zeit zu erfahren.

Als Grundeinsicht der indischen Karma-Lehre verschiedenster Traditionen darf gelten: Die Lebewesen - ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Lebensumstände - sind das Ergebnis ihrer eigenen inneren und äusseren Betätigungen, nicht etwas Zufälliges, sondern etwas, das ihnen zu fällt, ihnen zugehört. Die Lebewesen sind, wozu sie sich selbst gemacht haben. Der Same für Freud und Leid, welches ihnen widerfährt, liegt in ihren eigenen Taten und in ihren eigenen Entwicklungen.

Verwirrend in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit stellt sich auch die Götter- und Halbgötterwelt der indischen Mystik dar. Im Gegensatz zu den westlichen Auslegungen, welche diese Götterwelt all zu schnell mit dem Polytheismus der Griechen oder Römer gleichstellen, interpretiert der vedische Monotheismus diese Göttergestalten als verschiedene Aspekte des EINEN persönlichen Gottes, während der vedische Monismus von den verschiedenen Formen der EINEN göttlichen Kraft spricht.

Bekannt sind vor allem die drei Gottheiten Brahma, Vishnu und Shiva, welche für das Prinzip der Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung stehen.

Für viele gilt Krishna (der Allanziehende) als der Ursprung aller anderen Aspekte. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der die verschiedenen Tempel besuchte, um den Ursprung zu finden. Als er bei Brahma ankam, sah er wie dieser bei seinem Schöpfungswerk dargestellt war. Shiva sah er bei seinem Tanz der Zerstörung und Vishnu bei seiner Aufgabe der Erhaltung. Als er jedoch den Krishnatempel besuchte, sah er diesen in der Form eines Kuhhirtenknaben mit seinen Freunden herumtollen, in Streiche oder im trauten Zusammensein mit den Mädchen von Vraja vertieft. Da dachte er bei sich, dass müsse ja dann wohl tatsächlich der Ursprung sein.

Traditionell werden dem Veda sechs philosophische Systeme zugeschrieben. Die Bandbreite dieser Systeme reicht von einer an den westlichen Atheismus erinnernde Atomlehre bis hin zur Lehre des Göttlichen als Ursprung aller Existenz. So erstaunlich es deshalb klingen mag, sind in der Lehre des Veda Atheisten genauso eingeschlossen wie Polytheisten, Pantheisten, Monotheisten, Panentheisten und Monisten. Jeder dieser Gläubigen darf für sich ableiten, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch zu behaupten, dass der andere sich deshalb auf einem falschen Weg befinden müsse, widerspricht dem vedischen Grundverständnis, wonach der andere lediglich auf einem anderen Weg - eben seinem Weg - zum Göttlichen ist. Nicht der Mensch hat darüber zu urteilen, die Natur urteilt darüber selbst in einer Art Entsprechungsprinzip: Wer nach der Wahrheit sucht, wird letztlich zur Wahrheit gelangen; wer Halbwahrheiten sucht, wird Halbwahrheiten finden; wer lediglich nach einer billigen Lösung sucht, wird sich mit den entsprechenden Lösungen zufrieden geben. Entscheidung in Freiheit ist daher das höchste Prinzip in der religiösen Entwicklung des Einzelnen, über die kein Mensch - sei er Priester oder König - zu bestimmen hat.

In den unterschiedlichen Sampradayas werden all die verschiedenen Aspekte des Lebens von der Ernährung, über die Gesundheit, die Ethik bis hin zu den grossen philosophischen Fragen des Ursprungs und der Bestimmung der Existenz eingehend erörtert. In die Einzelheiten der Vielschichtigkeit all dieser Verständnisse in den unterschiedlichen Strömungen einzugehen, wäre weit mehr als nur ein Lebenswerk. Hinter jeder Auffassung steht letztlich ein Mensch, mit seiner individuellen Erfahrung und dem daraus hervorgegangenen Verständnis und Glauben. Meine Sicht des vedischen Hinduismus ist sicherlich von der Bhakti-Strömung des Chaitanya Mahaprabhu geprägt. Er gilt vielen Bhakti-Yogis als der "verborgene Avatar" im Kali-Yuga, dem jetzigen vierten Zeitalter des Streites und der Heuchelei.

(Avatar - Der Herabsteigende. Das Erscheinen/sich Sichtbarmachen Gottes oder seiner göttlichen Kraft, Shakti, auf Erden.)

In Indien sind es vor allem zwei theologische Schulen, die einander gegenüber stehen:
  • Die Lehre der Einheit (advaita), versteht diese Welt als illusionäre Vorstellung (maya), und anerkennt nur das unpersönliche Brahman als wirklich.
  • Die Lehre der Zweiheit (dvaita), versteht die Dualität dieser Welt als täuschend (maya), aber dennoch als wirklich, und lehrt die Überwindung dieser Welt der Gegensätze durch den Vorgang, in dem das Lebewesen die Trennung von seinem Ursprung (dem persönlichen Schöpfergott) überwindet.
Die altindischen Überlieferungen betonen manchmal mehr das Ungetrenntsein (abheda) von Lebewesen und göttlichem Urgrund, an anderen Stellen betonen sie mehr die Getrenntheit (bheda). Chaitanya Mahaprabhu (1486-1533) lehrte die Auffassung des acintya-bheda-abheda-tattva: des unbegreiflichen gleichzeitigen Eins- und doch Verschieden-Seins. Der Begriff unbegreiflich (acintya) deutet darauf hin, dass wir uns Gott, wie er wirklich ist, nicht vorstellen, wohl aber auf einer transzendentalen Ebene erfahren können. Als transzendentale Erfahrungsebene offenbarte er die Klang-Meditation der in Krishna gründenden Mantras, welche sich beim Einzelnen in der Stille oder auch in grossen Mantra-Zusammenkünften entfalten kann. Sein Bhakti-Yoga erzählt von einem persönlichen, fühlenden, wollenden, liebenden und geliebten Gott des Herzens und des Gewissens, in dem alles enthalten und nichts ausgeschlossen ist.

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